Die Industriekrise ist ein wichtiges Wahlkampfthema. Unter Arbeitern ist die CDU im Aufwind, doch mit dem Kanzlerkandidaten haben viele Berührungsängste. Den offenen Konflikt mit dem linken Parteiflügel scheut Friedrich Merz in Bochum – und findet am Schluss deutliche Worte zur AfD.
Bochum-West, wenige hundert Meter vom ThyssenKrupp-Werk entfernt. Das Dampfgebläsehaus der Jahrhunderthalle, einer stillgelegten Stahlfabrik, ist am Montagabend bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als 150 Betriebsräte und Gewerkschafter aus den großen Industriebetrieben des Ruhrpotts sind gekommen, um vor allem einem Mann zuzuhören: Friedrich Merz, CDU-Chef und Kanzlerkandidat.
Die Anspannung ist Merz anzumerken, als er in die voll besetzte Halle tritt, von deren Backsteinwänden der Putz bröckelt. Denn eigentlich ist das hier klassisches SPD-Terrain. Zumindest war das mal so.
Es ist das eine Thema, das die Betriebsrätekonferenz dominiert, zu der nicht die Sozialdemokraten, sondern der Arbeitnehmerflügel der Union (CDA) nach Bochum geladen hat: Wie geht es weiter in der Industrie, was wird aus zehntausenden Beschäftigten, deren Arbeitsplatz akut in Gefahr ist? Die Partei, der unter der Bevölkerung am ehesten zugetraut wird, Lösungen in der Wirtschaftspolitik zu schaffen, hat gute Chancen, die Bundestagswahl im Februar für sich zu entscheiden.
Aber ein Arbeiter-Führer Friedrich Merz, der sich für die Interessen der „Kumpels“ aus dem Pott einsetzt? Das können sich hier viele nur schwer vorstellen. Das Problem: Merz haftet das Image des gefühlskalten Blackrock-Managers an. Einer, der jahrzehntelang dem Politbetrieb in Berlin und Brüssel angehörte. Einer, der Nadelstreifenanzug trägt und die „Sorgen der kleinen Leute“ nur aus der Zeitung kennt. Die Betriebsräte hören deshalb genau zu, als Merz zu seiner Rede ansetzt. Nur vereinzelt, dann aber gezielt und entschieden, gibt es Applaus aus dem Publikum.
Dass Merz eher unentspannt wirkt, hat auch mit Dennis Radtke zu tun. Radtke, 45, ist gebürtiger Bochumer und seit Kurzem Chef des Sozialflügels der CDU. Für ihn ist der Abend ein Heimspiel. Den ThyssenKrupp-Betriebsratschef Tekin Nasikkol begrüßt Radtke mit einem deftigen Schlag auf die Schulter und einem „lieber Tekin“ – für Merz hingegen gibt es einen kurzen Handschlag.
Merz und Radtke gelten innerhalb der Union als Gegenspieler, die gerade bei der Sozialpolitik weit auseinanderliegen. Radtke, der konsequent jeden in der Jahrhunderthalle duzt, spricht Merz mit „Sie“ an. Merz wiederum weiß, dass die Konkurrenz von der SPD geradezu darauf wartet, dass ihm öffentlich Patzer unterlaufen – und der heutige Abend wäre dafür fast schon prädestiniert.
Auch deshalb tastet sich der CDU-Chef zunächst an sein Publikum heran, spricht fast schon leise und nur gut überlegte Sätze. Seine Ausführungen beginnen mit Donald Trump, dann folgt ein wilder Ritt durchs CDU-Wahlprogramm: Von niedrigen Netzentgelten, die nötig seien und „ideologischer Sturheit“ der Grünen in der Energiepolitik ist die Rede. „Ich möchte nicht, dass das Ruhrgebiet ein großes Industriemuseum wird“, sagt Merz. Das kommt gut an bei den Gästen. Seine Kernbotschaft: Für Beschäftigungssicherung und einen großzügigen Sozialstaat braucht es dauerhaft wieder Wachstum.
Dann adressiert Merz die Arbeitnehmer direkt. Seine Stimme wird lauter, der CDU-Chef klingt nun fast schon wie ein Sozialdemokrat. „Ich bekenne mich ganz deutlich zur betrieblichen Mitbestimmung“, sagt Merz. „Aus eigener Erfahrung weiß ich: Das ist ein Vorteil, kein Nachteil.“ Die Union wolle Arbeitnehmer stärken: nicht nur durch Entlastungen bei der Steuer, sondern auch durch besseren Zugang zu Vermögensaufbau. „Es kann doch nicht sein, dass zehntausende Beschäftigte hierzulande jeden Morgen zur Arbeit fahren und die Gewinne für Dax-Konzern erarbeiten – die Dividenden aber zum großen Teil an Aktionäre im Ausland fließen.“
Die heiklen Themen hingegen, bei denen CDA-Chef Radtke ganz anderer Meinung ist, spart Friedrich Merz aus. Wohl ganz bewusst: Einen Streit auf offener Bühne zu provozieren, könnte vor allem dem politischen Gegner nutzen.
Radtke und auch sein Vorgänger, Karl-Josef Laumann, der ebenfalls im Publikum sitzt, sind bei Bürgergeld, Mindestlohn und betrieblicher Mitbestimmung nämlich teilweise näher an den SPD-Positionen als beim eigenen Kanzlerkandidaten. Es dürfte eines der großen Spannungsfelder in der Union bei einem möglichen Wahlsieg werden.
Denn klar ist: Ob Rente, Migrations- oder Sozialpolitik – für einen Kurswechsel bei den großen Themen braucht die CDU das Arbeitsministerium. Parteiintern wird unter anderem Carsten Linnemann für den Posten als Nachfolger von Hubertus Heil (SPD) gehandelt. Der 47-jährige Linnemann gilt als harter Gegner des Bürgergeldes und treuer Anhänger von Merz. Die Forderungen des Sozialflügels würde er wohl kaum umsetzen.
Nur einmal kommt Merz ganz kurz auf das Aufreger-Thema Bürgergeld zu sprechen. „Das ist ja fast schon ein bedingungsloses Grundeinkommen geworden“, sagt der Parteichef. „Das wollen wir nicht.“ Radtke schaut da leicht gequält in Richtung Decke, sagt aber nichts. Auch er ist an diesem Abend nicht auf Konfrontation aus. Wenig später folgt dann der Schulterschluss: „Ohne ein starkes Europa haben wir keinen Erfolg“, sagt Merz. „Weder in der Industrie noch bei der Verteidigung.“ Das hört der Europa-Abgeordnete Radtke natürlich gerne, das Bürgergeld-Thema ist da schon wieder vergessen.
Den Elefanten im Raum hingegen sprechen beide CDU-Männer den ganzen Abend über nicht von sich aus an. Auf Platz zwei in den Wahlumfragen liegt seit Wochen nämlich nicht die SPD, sondern die AfD. Und bei der Europa-Wahl im Juni 2024 zeigte sich: Unter Arbeitern wurde die AfD am häufigsten gewählt – vor CDU und SPD.
Dennis Radtke hat schon früh davor gewarnt, dass die Krise in der Industrie den Rechtspopulisten viele Wähler zutreibt. Von der Job-Angst profitiert nämlich weniger die Union, sondern eher die Ränder. „Viele Arbeitnehmer rennen zur AfD“, sagt Radtke kürzlich im Interview mit WELT. „Und wenn die Menschen den Eindruck haben, die politische Mitte kümmert sich nicht mehr darum, dass ihre Jobs zukunftssicher sind, dann wird diese Entwicklung ungebremst weitergehen“.
Nur kurz vor Schluss, als Reaktion auf eine Frage aus dem Publikum, kommt Merz auf die AfD zu sprechen. „Bei der Rede von Frau Weidel auf dem AfD-Parteitag ist es mir eiskalt den Rücken heruntergelaufen“, sagt er. „Mit diesen Leuten wird es mit mir keine…“ – der Rest geht in Klatschen unter.
Es ist der mit Abstand lauteste Applaus, den Friedrich Merz an diesem Abend in Bochum erntet.
2025-01-13T21:45:43Z