Olaf Scholz lädt zum Kanzler-Gespräch in Berlin. Das Publikum treibt dort Themen wie Tempolimit, Umgang mit Klimaklebern oder Steuern für Besserverdiener um. Und nur unter anderem die Herausforderungen durch die starke Zuwanderung oder das Anwachsen der AfD. Es sind Abende wie dieser, aus denen Olaf Scholz die Gewissheit zieht, das Richtige zu tun.
Monika ist ganz vorn mit dabei. Sie ist beim Kanzler-Gespräch am Donnerstagabend in Berlin als Nummer drei dran, Olaf Scholz (SPD) eine Frage stellen zu dürfen. Und da platzt es aus ihr heraus. „Können Sie eigentlich noch ruhig schlafen? Wenn man sich anschaut, wie wir bei der Hilfe für die Ukraine hinterherhinken …“, fängt sie an.
Der Bundeskanzler stutzt kurz und versucht es dann mit einem Scherz als Einleitung seiner Antwort. „Ich habe ein Naturell, das es mir möglich macht, das hier alles hinzukriegen“, erklärt Scholz. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) würde sagen, der Kanzler lächelt zu seinem Gag „schlumpfig“. Schmunzeln im Publikum.
Olaf Scholz steht in der alten UFA-Fabrik in Berlin-Tempelhof unter einem weißen Zelt, angestrahlt von vielen Scheinwerfern, die für zusätzliche Hitze sorgen, umgeben von rund 150 Menschen, die ihm auf den Zahn fühlen sollen. Er wird nach dieser 90-minütigen Fragerunde, in der die Teilnehmer viele Themen anreißen, garantiert tief und wohlig schlafen. Es sind Abende wie dieser, aus denen der Kanzler seine Kraft schöpft. In denen er die Gewissheit gewinnt, das Richtige zu tun.
Es ist das 16. Kanzler-Gespräch, die Begegnung mit dem Wahlvolk. Nach den aufwühlenden Wahlen in Sachsen und Thüringen ausgerechnet in Berlin, dieser unberechenbaren Stadt, die es noch keinem Regierenden wirklich leicht gemacht hat. Aber dort kann Olaf Scholz in der UFA-Fabrik über eine App sinnieren, die es vielleicht irgendwann mal gibt, so in 20 Jahren, und die dann anzeigt, dass damals, also heute, die richtigen Entscheidungen getroffen wurden. Als er Kanzler war. Es gibt da keinen Protest, keinen Einspruch, kein Murren.
Es ist frappierend, in welchem Ausmaß dieser Abend die Spaltung Deutschlands aufzeigt, die sich kreuz und quer durch das Land zieht. Und besonders deutlich wird das, wenn man von der Beobachtung der Landtagswahlkämpfe in Sachsen und Thüringen zurück in die Hauptstadt kommt.
Wo man vielerorts wütende Menschen gesehen hat, Leute, die massive Zukunftsängste haben. Die sich – wie oft die Landbevölkerung in Ost und West – vielfach abgehängt fühlen. Die keine Wohnung finden, trotz ordentlicher Gehälter. Die Angst haben, abends rauszugehen, nicht genug Geld fürs Heizen nach der nächsten Preisrunde zu haben oder um dem nächsten Inflationsschub zu trotzen.
All das spielt beim Kanzlergespräch auch eine Rolle – aber eben nur unter anderem. Die Teilnehmer sprechen die Herausforderungen wohltemperiert an. Es fühlt sich tatsächlich an, wie in der viel zitierten Berliner Blase. Nur ist die nicht im Regierungsviertel oder in den Medienhäusern, wie oft unterstellt wird, sondern an diesem Abend im Süden der Stadt. Eine Blase der Gutmeinenden, Verständigen, das Gegenteil der vielen Blasen wütender Menschen andernorts. In Thüringen oder Sachsen zum Beispiel. Blasenrepublik Deutschland.
In Berlin wollen die Leute vom Kanzler wissen, warum das Tempolimit auf Autobahnen immer noch nicht kommt. Und die Auszeichnungspflicht für ungesunde Lebensmittel. Oder das umstrittene Demokratiefördergesetz. Eine junge Frau fragt, warum er sich nicht an die Seite der Klimaaktivisten stellt. Was Scholz erneut ablehnt. Er hält den geforderten Klimanotstand für eine skurrile Idee ohne Wirkung. Dafür bekommt er demonstrativ keinen Applaus.
Ein Mann namens Denny mit einer körperlichen Behinderung fragt den Bundeskanzler: „Können Sie sich vorstellen, ihre Reden mit ,Liebe Migranten, liebe Behinderte und Nichtbehinderte’ zu beginnen?“ Was Olaf Scholz etwas zu lang findet.
Ein anderer Mann fordert, „endlich die Reichen richtig zu besteuern“. Über eine Reichensteuer, eine Erbschaftssteuer, über höhere Einkommensteuer. Nur die Frage nach besserer Bildung einer jungen Mutter bekommt gefühlt noch mehr Applaus. Die Steuerfrage ist wie eine Rampe für die Argumente von Olaf Scholz. „Da sind wir schon zwei, die das wollen“, witzelt er über neue Belastungen für Besserverdiener und bleibt ansonsten inhaltlich unverbindlich.
Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Die Teilnehmer stellen durchaus auch jene Fragen, die gerade das ganze Land bewegen und sicher wahlentscheidend in Sachsen und Thüringen waren. Scholz habe vor wenigen Wochen versprochen, man müsse ohne Angst vor den Mitbürgern leben können. „Was haben Sie seither dafür unternommen?“, will die erste Rednerin wissen. Aber ist es das richtige Verhältnis, die richtige Gewichtung, die die Leute in der UFA-Fabrik beim Gespräch mit dem Kanzler vornehmen?
Man hätte den ganzen Abend darüber sprechen können, was der Grund für das überstarke Abschneiden der AfD in Sachsen und Thüringen mit jeweils mehr als 30 Prozent ist. Und was man dagegen tun kann. Was die Ursachen dafür sind, dass die Partei von Sahra Wagenknecht BSW bei den beiden Landtagswahlen jeweils aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis geholt hat. Aber der Begriff BSW fällt nicht mal. Oder warum in Thüringen rund 60 Prozent der Wähler mit AfD, BSW und der Linken populistische Parteien gewählt haben, die das Land nicht reformieren, sondern komplett umkrempeln – und ein ganz anderes Deutschland wollen. Warum die Ampel-Parteien zusammen in beiden Bundesländern auf rund zehn bis 13 Prozent geschrumpft sind. Und wo die Teilnehmer Fragen in diese Richtung stellen, lässt der Kanzler sie gekonnt abperlen.
Das Versprechen, nicht vor Mitbürgern in Angst leben zu müssen? „Ich könnte da jetzt viel erzählen“, sagt Scholz. Und erklärt dann, dass ausländische Straftäter nun ausgewiesen würden. „Es geht darum, irreguläre Migration zurückzudrängen“, so Scholz.
Die Ampel-Regierung habe bereits ein großes Maßnahmenpaket vorgelegt. „Wenn es super gut läuft, schaffen wir es, auf das alles weitere Maßnahmen aufzusetzen, auf die wir uns mit der Opposition verständigen. Mir wäre es recht“, betonte er mit Blick auf die Gespräche zwischen Bundesregierung, Ländern und Union. Wer die Details kennt, weiß, dass der Kanzler nichts weniger will, als sich von Unionsfraktionschef Friedrich Merz treiben zu lassen.
Der jungen Frau mit der Frage nach besserer Bildung für die Kinder erklärt der Kanzler als Lösung: Ganztagsschulen. Dem Mann, der die Mietpreisexplosion im Zusammenhang mit der massiven Zuwanderung anspricht, belehrt Scholz: „Ich muss Sie enttäuschen. Der herausfordernde Wohnungsmarkt hat nichts mit der Flüchtlingsfrage zu tun.“ Die Mieten seien schon vorher gestiegen, der Wohnraum knapp gewesen.
Und wenn die Rede auf die AfD kommt, dann nicht in dem Sinne, was Menschen bewegt, diese Partei zu wählen und was man als Kanzler dagegen tun könnte und müsste. Eine Frau fragt stattdessen, welche „Rechtsmittel“ die Bundesregierung gegen die „Sumpfblüte AfD“ einsetzen wolle. Ganz so, als habe das Wachsen dieser Partei keine Ursachen, die in der Politik der Ampelparteien und der Union zu suchen wären. Als könne man die AfD einfach mit „Rechtsmitteln“ verschwinden lassen.
Vielleicht liegt der milde Umgang mit dem Kanzler auch an den Medienpartnern der Kanzler-Gespräche. Es sind sehr viele Tagesspiegel-Abonnenten unter den Teilnehmern, mutmaßlich also liberal- bis linksliberale Menschen, Großstädter in häufig gut situierten Verhältnissen. Am Ende wird Olaf Scholz nur ein Mal wirklich gestellt. Als ein Mann sagt, die Ampel-Koalition führe sich auf, „wie ein Haufen kleiner Kinder, die sich ständig widersprechen“. Und was der Kanzler für eine „bessere Außendarstellung“ zu tun gedenke.
Scholz ist viel zu sehr Profi, um sich damit vorführen zu lassen. „Welches Patentrezept haben denn Sie? Ich frage für einen Freund“, fragt Scholz zurück. Und erntet Gelächter. Zum Schluss räumt er aber auf den Vorwurf des Kindergartens ein: „Sie haben Recht.“ Ein selbstkritischer Kanzler, der auch mal Ratlosigkeit eingesteht, das kommt an. Wie Olaf Scholz das Problem meistern will, sagt er nicht. Die Leute wollen das an diesem Abend auch gar nicht hören. Sie wollen Selfies mit dem Kanzler machen. Die Schlange ist so lange, dass selbst Selfie-König Markus Söder neidisch werden würde.
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