WENN IN MAROKKO NUR AUSGEWäHLTE FREUNDE HELFEN DüRFEN

Gut eine Woche nach dem verheerenden Erdbeben in Marokko sind die meisten der spanischen Rettungskräfte wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Zu ihnen zählt auch eine Feuerwehrmannschaft aus dem andalusischen Cádiz. Die Männer waren in zwei völlig zerstörten Ortschaften im Atlasgebirge im Einsatz. «Wir kamen zu spät und konnten nur noch Tote bergen», so Einsatzleiter Moisés Delgado. Nach vorläufigen Zahlen forderte die Katastrophe bisher über 2900 Menschenleben, über 6000 Menschen wurden verletzt.

Besonders schwer getroffen wurde das im Hohen Atlas in der Provinz Al Haouz gelegene Dorf Azgour mit seinen vormals fast 7000 Einwohnern. «Mehr als tausend Menschen starben dort, mein Dorf liegt in Schutt und Asche», klagt ein unweit von Madrid lebender Koran-Lehrer, der ursprünglich aus Azgour stammt. Seinen Namen will er nicht in der NZZ lesen, um mögliche Repressalien zu vermeiden. Denn er macht der marokkanischen Regierung und König Mohammed VI. schwere Vorwürfe. «Man hätte viele Leben retten können, wenn man schnell entschieden hätte, was zu tun ist», so der Marokkaner.

In der Tat erlaubt sich König Mohammed VI. den Luxus, Hilfsangebote von Ländern wie Frankreich und Algerien auszuschlagen. Denn die Auswahl der internationalen Helfer – 60 Länder hatten Angebote unterbreitet – traf der Monarch vor allem unter geopolitischen Gesichtspunkten.

Kein «humanitärer Paternalismus» erwünscht

Frankreichs Hilfe wurde bisher ausgeschlagen, weil das Verhältnis zwischen den Ländern schon lange unterkühlt ist. Denn die Ex-Kolonialmacht steht in der Westsahara-Frage nicht auf der Seite Marokkos. Die diplomatische Krise gipfelte zu Jahresbeginn im Abzug des marokkanischen Botschafters aus Paris.

Offenbar empfindet man in Marokko mittlerweile so wie Jean François Corty, Vizepräsident der Organisation Médecins du Monde: Der Westen solle aufhören mit seinem humanitären Paternalismus, Marokko sei fähig, eine grosse Krise selbst zu meistern, sagte er der französischen «Le Monde».

Das Nachbarland Algerien, das sich gegen Marokkos territoriale Ansprüche in der rohstoffreichen Westsahara wehrt, gilt schon lange als feindliches Land. Seit über 30 Jahren sind die Grenzübergänge nach Algerien geschlossen, der Handel ist zum Erliegen gekommen.

Grossbritanniens Hilfe wurde hingegen akzeptiert, wohl auch, weil sich die marokkanischen Exporte ins Vereinigte Königreich seit dem Brexit vor dreieinhalb Jahren fast verdreifacht haben. Auch Unterstützung aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Katar war willkommen.

Als vierter Helfer wurde Spanien ausgewählt, nachdem der amtierende Ministerpräsident Pedro Sánchez vor einem Jahr die marokkanischen Ansprüche über die rohstoffreiche Westsahara gutgeheissen hatte. Madrid sah sich zu dieser Kehrtwende gezwungen, weil Rabat für die Spanier essenziell ist, um die Migration an seiner Südgrenze zu kontrollieren. «Angesichts der schwierigen Situation in Niger und Mali dürfte der Migrationsdruck weiter ansteigen, da ist Madrid viel daran gelegen, die Kooperation zu festigen», so das spanische Portal «El Mundo».

Nach dem zögerlichen Anlauf der Katastrophenhilfe versucht Marokkos Regierung nun zumindest die Versorgung der Menschen, die beim Erdbeben ihr Zuhause verloren haben, zu sichern. Die marokkanischen Medien berichten dieser Tage ausführlich über die Lieferung von Hilfsgütern, den Aufbau von Zelten und die Verteilung von Lebensmitteln in der betroffenen Region. Die Zeit drängt, denn die Temperaturen im Atlasgebirge sinken.

International mehrte sich jedoch die Kritik am Verhalten des Königs, dessen Privatvermögen auf rund sechs Milliarden Franken geschätzt wird. Die französische Satirezeitschrift «Charlie Hebdo» widmete dem Monarchen und seinem Geld gar seine Titelseite.

Doch eine Debatte darüber oder über das späte Eintreffen der Rettungsmannschaften und den Entschluss, die Hilfe aus dem Ausland bei der Suche nach Verschütteten stark zu begrenzen, fand in den lokalen Medien nicht statt. In Marokko gibt es die Pressefreiheit nur auf dem Papier. Laut einer Rangliste der internationalen Organisation Reporter ohne Grenzen liegt Marokko auf Platz 144 von insgesamt 180 Ländern.

König Mohammed VI. besuchte mittlerweile ein Spital in Marrakesch und liess sich am Krankenbett von Erdbebenopfern ablichten. Doch für die viel erwartete Ansprache an seine Landsleute hat der Monarch noch keine Zeit gefunden. Nach der Stippvisite im Spital verschwand er denn auch sofort mit seiner Autokolonne. Davon gab es keine Aufnahmen, denn die Polizei wachte wie üblich darüber, dass vom König in der Öffentlichkeit nur offizielle Bilder verbreitet werden.

Die Armut darf nicht gezeigt werden

Auch aus dem Katastrophengebiet würden mittlerweile weniger Fotos und Videos gezeigt, schrieb die spanische Tageszeitung «El Español» am Wochenende. Die marokkanische Presse verteidigte dieses Vorgehen. Man wolle damit vor allem Kinder und Frauen vor unsittlichen Fotos in den sozialen Netzwerken schützen.

Die in Barcelona lebende marokkanische Schriftstellerin und Philosophin Karima Ziali ist jedoch überzeugt, dass es vor allem darum geht, dass man die Armut im Land nicht zeigen wolle.

Denn sie steht im krassen Gegensatz zum immensen Vermögen der marokkanischen Elite. Nicht nur der König, sondern auch Marokkos Ministerpräsident Aziz Akhannouch sind erfolgreiche Unternehmer. Bei seinem Amtsantritt 2021 wurde das Vermögen des Politikers von Forbes auf umgerechnet knapp zwei Milliarden Franken geschätzt. Nun treffe das Erdbeben aber vor allem die Ärmsten, schrieb der in Frankreich lebende marokkanische Schriftsteller Abdellah Taïa wenige Tage nach der Katastrophe in der französischen Tageszeitung «Le Monde».

Doch nicht immer bleiben die Menschen stumm. Nach dem schweren Erdbeben 2004 in der Nähe der nordmarokkanischen Stadt al-Hoceima entstand eine Protestbewegung, die sich anfangs gegen das Chaos bei der Verteilung der Hilfsgüter richtete. Die Bewegung ist heute noch aktiv, um mehr soziale Gerechtigkeit zu fordern.

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