RUSSLAND: ARNDT FREYTAG VON LORINGHOVEN üBER RUSSISCHE DESINFORMATION: »DER KREML STUFT DEUTSCHLAND ALS LEICHTE BEUTE EIN«

Der ehemalige BND-Vizepräsident Arndt Freytag von Loringhoven beschreibt, warum Russland die Deutschen als Hauptziel seiner Desinformationskampagnen ins Visier nimmt. Und wie man sich dagegen wehren sollte.

SPIEGEL: Sie bezeichnen Deutschland als das wichtigste europäische Ziel in Putins Informationskrieg. Wie kommen Sie zu der Einschätzung?

Freytag-Loringhoven: Nach unseren Recherchen hat Putins rechte Hand im Kreml, Sergej Kirijenko, das Mitte 2022 so formuliert und vorgegeben. Bei ihm laufen die Fäden aller Kampagnen zusammen. Neue Erkenntnisse des US-Justizministeriums und jüngste Datenleaks bestätigen das.

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SPIEGEL: Warum geht der Kreml ausgerechnet gegen Deutschland so massiv vor?

Freytag-Loringhoven: Ein Grund ist der Ukrainekrieg. Die Russen wollen mit Social-Media-Kampagnen wie »Doppelgänger« auf die deutsche Politik und Öffentlichkeit einwirken, um den Rückhalt für die Ukraine zu schwächen und die Ränder zu stärken. Deutschland wird im Kreml als zentraler Entscheider in EU und Nato wahrgenommen, auch wenn es um Waffenhilfe oder Sanktionen geht. Und gleichzeitig als leichte Beute, als Weichstelle in der EU. Diese Kombination aus starkem Einfluss bei gleichzeitiger Schwäche macht uns zum idealen Ziel.

SPIEGEL: Trifft diese Analyse zu? Agiert Deutschland schwach?

Freytag-Loringhoven: Mit seiner Zeitenwende-Rede hatte der Bundeskanzler eine klare, härtere Linie vorgegeben. Die Umsetzung ist allerdings nicht ganz konsequent. Auch der Propaganda durch russische Staatsmedien und bezahlte Russlandexperten in Talkshows wurde nichts entgegengesetzt. Umfragen und jüngst auch Wahlergebnisse zeigen, dass nennenswerte Teile der Bevölkerung nicht wirklich hinter einer härteren Russlandpolitik stehen. Anfang 2023 stand Russland für die Deutschen noch an erster Stelle im Bedrohungsindex der Münchner Sicherheitskonferenz, dieses Jahr auf dem siebten Rang. Auch die Solidarität mit der Ukraine scheint zu erodieren.

SPIEGEL: Zuletzt wurden über die vielfältigen Einflussoperationen der Russen immer mehr Details öffentlich, über bezahlte Influencer, über den Maschinenraum hinter der »Doppelgänger«-Kampagne. Haben Sie Erkenntnisse darüber, inwiefern all diese Kampagnen tatsächlich wirken?

Freytag-Loringhoven: Das ist schwer zu messen. Selbst der Mueller-Report nach der russischen Einflusskampagne auf die US-Wahl 2016, dessen Autoren riesige Datenmengen auswerten konnten, kam nicht zu eindeutigen Schlüssen. Das bedeutet aber keine Entwarnung. Wenn Russland jährlich Milliarden Euro dafür ausgibt, geht man zumindest im Kreml fest davon aus, dass Desinformation wirkt. Vielleicht verändert sie nicht unmittelbar Wahlentscheidungen, aber sie wirkt schleichend, indem sie das Misstrauen gegenüber Staat, Regierung und traditionellen Medien schürt. Das beobachten wir, und das ist im strategischen Interesse des Kreml, wie auch die schleichende Entsolidarisierung mit der Ukraine und die Wahlergebnisse für AfD und BSW. Ist das alles ein Zufall? Ich denke nicht.

SPIEGEL: Gerade »Doppelgänger« setzt weniger auf krasse Falschinformationen als auf die massenhafte Verstärkung vorhandener und teils durchaus legitimer Kritikpunkte am Regierungshandeln – etwa rund um die Bauernproteste oder eben bei der Ukrainehilfe. Was ist der richtige Umgang damit, um nicht tatsächlich die Meinungsfreiheit einzuschränken?

Freytag-Loringhoven: Es geht nicht darum, jemanden zu zensieren. Kritik an der Bundesregierung und an Waffenlieferungen muss immer uneingeschränkt möglich sein. Was aber dringend abgestellt werden muss, ist dieser groß angelegte Versuch, unsere Debatten von außen zu manipulieren – indem man sie mit technischen Mitteln verzerrt. Bei diesen Mechanismen müssen wir ansetzen, nicht bei den Inhalten.

SPIEGEL: Wie soll das konkret geschehen, ohne denjenigen in die Hände zu spielen, die heute bereits behaupten, es gebe keine Meinungsfreiheit mehr im Land?

Freytag-Loringhoven: Wir müssen vor allem von den Onlineplattformen verlangen, dass sie sie diese Art von Manipulation erkennen und wirksam abstellen. Die millionenfache künstliche Verbreitung von Inhalten, bei denen Adressaten einen echten Menschen hinter der Nachricht vermuten, darf nicht weiter toleriert werden. Das ist das Gegenteil freier Meinungsbildung.

SPIEGEL: International scheinen Regierungen gerade die Geduld mit manchen Betreibern zu verlieren. Ein brasilianischer Richter hat X sperren lassen, die französische Justiz ermittelt gegen den Telegram-Gründer und hindert ihn an der Ausreise. Halten Sie das für den richtigen Weg?

Freytag-Loringhoven: Wir müssen unsere gesetzlichen Möglichkeiten ausschöpfen. Europa ist mit dem neuen Digital Services Act hier weltweit Avantgarde. Er ermöglicht weitreichende Sanktionen, wenn die Plattformen nicht die geforderten Mechanismen bereitstellen, um auf ihren Missbrauch sehr schnell zu reagieren – bis hin zu Sperren.

SPIEGEL: Auf Social Media scheinen viele die russischen Einflussversuche zu negieren oder zu verharmlosen. Wie erklären Sie sich das?

Freytag-Loringhoven: Viele haben den Schuss noch immer nicht gehört. Manche hegen und pflegen ein Russlandbild, als habe es die versuchte Vollinvasion der Ukraine nicht gegeben. Auch die hybride Kriegsführung verdichtet sich trotz all der krassen Beispiele nicht zu einer angemessenen Bedrohungswahrnehmung. Desinformation ist wie Radioaktivität, sie wirkt zersetzend. Auch die militärische Gefahr wird ausgeblendet oder komplett unterschätzt. Bei vielen Nachbarn ist das anders, in Polen etwa.

SPIEGEL: Wegbereiter für das rosige Russlandbild, das sie kritisieren, war doch die Bundesregierung von Angela Merkel, unter der Sie BND-Vize waren, mit dem Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dem Sie als Diplomat dienten. Die benennen Sie im Buch aber nicht als Verantwortliche. Aus alter Beamtenloyalität?

Freytag-Loringhoven: Natürlich war die Bundeskanzlerin in ihren 16 Jahren Amtszeit gesamtverantwortlich auch für die Russlandpolitik, für die Zustimmung zur Gaspipeline Nord Stream und den Abbau der Bundeswehr. Und wir haben nicht wie andere nach der Krim-Annexion 2014 die Verteidigungsausgaben deutlich erhöht, um die Bundeswehr wieder zu ertüchtigen.

SPIEGEL: Sie schreiben: Russland ist heute ein gewaltbereiter, imperialistischer und revanchistischer Staat, viel gefährlicher als die späte Sowjetunion. Wie viele Ihrer Diplomaten-Kolleginnen und -Kollegen im Auswärtigen Amt würden diese Aussage so unterschreiben?

Freytag-Loringhoven: Ich glaube, dass viele eigentlich so denken, aber es wahrscheinlich aus einer gewissen diplomatischen Kultur nicht so hart ausdrücken, wie ich es jetzt kann.

SPIEGEL: Wann haben Sie persönlich in Ihren beruflichen Stationen die hybride Kriegsführung Russlands als Bedrohung erkannt?

Freytag-Loringhoven: In meiner Zeit im Nato-Hauptquartier habe ich die gemeinsame Lageanalyse verantwortet, das war 2016 bis 2019, nicht lange nach der ersten russischen Ukraineinvasion. Wir haben Russland damals bereits neben dem internationalen Terrorismus als Hauptbedrohung für die Nato-Länder eingestuft, auch wegen seiner hybriden Kriegsführung. Sowohl die Desinformationskampagnen als die Cyberangriffe hatten wir auf dem Schirm. Ich habe deshalb, gleich als ich dort anfing, ein Referat für hybride Bedrohungen eingerichtet.

SPIEGEL: Wenn Sie die Fülle der russischen Aktivitäten beschreiben, verspüren Sie als Ex-Geheimdienstler auch einmal so etwas wie einen gewissen professionellen Respekt vor dem, was da aus Russland kommt?

Freytag-Loringhoven: Zweifellos sind die Geheimdienste in Moskau unverhältnismäßig viel breiter aufgestellt. Was dort an Ressourcen in die beteiligten Behörden und Unternehmen fließt, ist unglaublich. Wir müssen verstehen, dass Putins hybrider Krieg zentral orchestriert und gesteuert wird. Wir nehmen hier, wenn überhaupt, einzelne Puzzleteile wie Desinformation, Propaganda oder Cyberattacken wahr – sehen aber bislang nicht den Gesamtplan dahinter. Diesen elementaren Sprung müssten wir nun endlich machen.

SPIEGEL: Sie schreiben, die bisherigen Mittel der nachrichtendienstlichen Bearbeitung reichten nicht mehr aus, es werde viel zu wenig getan. An wen richtet sich diese Kritik?

Freytag-Loringhoven: Das geht an die deutschen Nachrichtendienste und an die Regierung. Andere Länder wie Schweden und Frankreich haben längst spezialisierte Agenturen eingerichtet, die wir uns genau angesehen haben. In Frankreich arbeiten dort allein 50 Experten. Wir haben jetzt ein kleines Referat im Auswärtigen Amt und die Absicht der Innenministerin, eine Zentralstelle für den Umgang mit dieser Bedrohung einzurichten – das ist in keiner Weise vergleichbar, es ist zu wenig, zu langsam. Wir müssen unsere Fähigkeiten verbessern und endlich mehr Geld in die Hand nehmen, das haben wir sträflich vernachlässigt.

SPIEGEL: Offensive Maßnahmen dürften nicht tabu sein, fordern Sie. Was meinen Sie da genau? Sollten deutsche Behörden erkannte Schadserver über die Cyberangriffe oder laufende Einflusskampagnen aus der Ferne lahmlegen dürfen?

Freytag-Loringhoven: Als Ultima Ratio sollten wir das technisch können und auch tun dürfen. Die USA sind da jetzt schon wesentlich robuster und greifen auch auf anderem Wege durch. Das US-Justizministerium hat beispielsweise gerade 32 Netzadressen beschlagnahmt und gesperrt, auf denen die Russen gefälschte und manipulierte Nachrichtenseiten betrieben. Auch deutsche Behörden sollten einen breiten Werkzeugkasten bekommen, um effektiver gegen diese Angriffe auf unsere Demokratie vorgehen zu können.

SPIEGEL: Viele Ihrer vorgeschlagenen softeren Gegenmaßnahmen gegen Desinformation gehen davon aus, dass Aufklärung und Fakten noch verfangen – ist das nicht ein bisschen naiv?

Freytag-Loringhoven: Die Erfahrungen zeigen, dass Debunking, also das schnelle Entlarven von Desinformation, durchaus Wirkung zeigt. Allerdings wird es immer schwerer, damit diejenigen zu erreichen, die sich nur noch in ihren eigenen, selbst bestätigenden Blasen bewegen. Vielleicht sollten wir wie die Gegenseite nicht nur auf die Köpfe der Menschen zielen, sondern auch auf ihre Emotionen. Manchmal funktioniert Humor besser als ein belehrend wirkender Aufklärungston. Das Katzenfoto von Taylor Swift ist ein perfektes Beispiel.

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