„MIR SIND DIE ÄNGSTE DER AFD-WäHLER VöLLIG EGAL“

Migration

„Mir sind die Ängste der AfD-Wähler völlig egal“

Der Pädagoge Burak Yilmaz zur Migrationsdebatte, die erneut verstummte Mehrheit und ganz einfache Regeln für die Asylpolitik. Ein Interview von Bascha Mika

Herr Yilmaz, Sie haben durch Ihre Familie eine türkisch-kurdische Migrationsgeschichte. Sind Migrant:innen die schlechteren Deutschen?

Absolut nicht. Aber ihr Deutschsein wird immer wieder an gigantische Erwartungen gekoppelt, die sich ständig neu definieren. Und selbst wenn sie diese Erwartungen erfüllen, wird ihnen ihr Deutschsein abgesprochen. Immer wenn ich im Ausland sage, dass ich Deutscher bin, wollen die Leute mehr wissen und fragen nach Bayern München und so. Wenn ich hier sage, dass ich Deutscher bin, kommen Kommentare wie: Du siehst aber gar nicht deutsch aus.

Obwohl Sie hier geboren sind und auch bei Ihrer Aussprache niemand mit Vorurteilen kommen kann?

Leistung schützt nicht vor Diskriminierung – egal, was man auf die Beine stellt, ob man etwas Übergalaktisches leistet oder einen Impfstoff entwickelt. Wenn ich Jens oder Christian heißen würde, wäre mein Leben deutlich einfacher gewesen.

Um welche Erwartungen an Migrant:innen geht es?

Ich kann es anhand meiner Familienbiografie verdeutlichen. Von den Großeltern wurde erwartet, dass sie eine Arbeit haben und nicht aufmucken. Die zweite Generation sollte die Sprache lernen, arbeiten, keinen Mist bauen und sich an die Gesetze halten. Von der heutigen Generation wird verlangt, dass sie sich an den vermeintlich europäischen Werten orientiert: Freiheit, Gleichberechtigung, nicht antisemitisch oder sexistisch sein …

… ist das etwa falsch?

Alles ist daran falsch. Nicht die Werte, aber wie und von wem sie eingefordert werden. Ich muss mich nicht beweisen. Ich muss für nichts dankbar sein. Dieses Land soll dankbar dafür sein, dass Menschen wie ich hier leben und auch hierbleiben werden. Kein Deutscher kennt dieses Land so gut wie ich. Vielleicht sollte ich lieber die Deutschen integrieren, damit sie ihre Rolle im Einwanderungsland Deutschland schneller finden und wir diese Gesellschaft endlich mal nach vorne bringen können.

Seit vielen Wochen wird in der öffentlichen Debatte „Migration“ stets mit dem Zusatz „illegal“ versehen. Das freut die Rechtsextremen, oder?

Und ob. Die schlafen ja nicht, sondern versuchen permanent, die Deutungshoheit zu erlangen. Und jetzt haben sie es geschafft, dass der Begriff „illegale Migration“ zum Mainstream gehört. Das verkürzt die Debatte und verstärkt die Angst, dass in Deutschland nichts mehr unter Kontrolle ist. Es ist Zeichen eines Backlash, dass soziale Probleme immer wieder auf Migration zurückgeführt werden. Dabei haben wir seit Jahrzehnten Schwierigkeiten im Gesundheitssystem oder extremen Lehrermangel an den Schulen. Das alles auf Migration zu reduzieren, ist der große Erfolg der Rechtsextremen.

Darüber hinaus suggeriert der Begriff „illegale Migration“ ja auch, dass mit jedem Geflüchteten ein Verbrecher ins Land kommt.

Es kann doch nicht sein, dass man in der Politik und vielen Medien pauschal über Syrer und Afghanen spricht, als seien sie gefährlich. Viele von ihnen haben ihre Sprachkurse gemacht, einen Job und eine Wohnung gefunden. Die haben echt geliefert und können trotzdem aus Angst vor einem Abschiebebescheid nicht mehr schlafen. Im Moment geht unfassbar viel Vertrauen verloren. Sehr viele migrantische Menschen haben Existenzängste und suchen nach einem Plan B, weil sie fürchten, dass Deutschland seine Geschichte wiederholt. Die ständige Stigmatisierung und die fehlende Solidarität ist ein großes Thema in den Communities. Und bei vielen Deutschen kommt die Debatte gut an, obwohl sie hysterisch verkürzt geführt wird und jede Differenzierung fehlt.

Wobei der Terroranschlag in Solingen auch noch Argumente geliefert hat.

Natürlich müssen wir über Fälle wie in Solingen und den Islamismus sprechen. Ich habe nach dem Anschlag sehr viele Veranstaltungen gemacht, wo es um islamistischen Terror gehen sollte. Doch nicht ein einziges Mal wurde über Islamismus und die Opfer von Solingen geredet, es ging permanent nur gegen Geflüchtete und Migranten. Alles wird in einen Topf geworfen, das muss echt aufhören! Wir sind gesellschaftlich an einem gefährlichen Kipppunkt. Und was soll denn dann die Lösung sein? Weltweit sind über 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Sollen die einfach verhungern, sich ermorden lassen oder stehen bleiben, wenn die Bomben fallen? Ich bin wirklich wütend darüber, wie schnell dieses Land seine eigene Vergangenheit vergisst und immer weniger Empathie und Solidarität zeigt. Das Asylrecht muss als demokratische Errungenschaft verteidigt werden!

Was die CDU offenbar anders sieht. Sie treibt die Regierung mit dem Thema vor sich her, obwohl viele Organisationen und Verbände bestreiten, dass es eine Notlage gibt. Kopiert die Union nur Positionen der AfD oder was passiert hier gerade?

Hier geht es nicht nur um die CDU. Die Debatte ist auch deswegen so unerträglich, weil sich fast alle Parteien zu Komplizen der AfD machen. Man kann doch diese Partei nicht bekämpfen, indem man selber zur AfD wird! Wenn Leute rechts wählen wollen, wählen sie immer das Original. Diese Debatte ist Wahlwerbung für die AfD …

… wie sich bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ja auch gezeigt hat …

Wenn nach diesen Wahlen immer noch ernsthaft diskutiert wird, welche Ängste die AfD-Wähler:innen haben, dann kann ich das nicht mehr hören. Ganz ehrlich: Mir sind die Ängste der AfD-Wähler völlig egal. In meinem Freundeskreis haben alle Auswanderungspläne im Kopf. Diese Ängste will ich mal zur Primetime im Fernsehen sehen und Parteien erleben, die sich mit diesen Ängsten befassen. Ich finde es erschütternd, dass demokratische Parteien nicht in der Lage sind, Haltung zu zeigen und eigene Positionen zum Thema Migration zu entwickeln – zu Einwanderung, Flucht und Asyl -, sondern sich die ganze Zeit an der AfD orientieren.

Es sind also nicht nur Menschen jüdischen Glaubens, die aus Angst vor Antisemitismus derzeit ans Auswandern denken?

Im vergangenen Jahr sind antisemitische und rassistische Gewalttaten um über hundert Prozent angestiegen. Dieses „und“ ist mir sehr wichtig, weil solche Erfahrungen nicht gegeneinanderstehen. In meiner Arbeit mit Familien, die von Rassismus oder Antisemitismus betroffen sind, merke ich, dass es wenig Bewusstsein darüber gibt. Dabei bin ich sicher: Wenn heute eine Synagoge angezündet wird, brennt morgen eine Moschee. Der Attentäter von Halle hat erst versucht, in die Synagoge reinzukommen und weil er das nicht geschafft hat, hat er in einen Dönerladen geschossen.

Noch im Frühjahr hatten wir so etwas wie einen demokratischen Aufbruch, als Hunderttausende für Demokratie auf die Straße gegangen sind.

Viele Migrant:innen fragen sich, wo all diese Leute geblieben sind. Warum erheben die nicht ihre Stimme? Warum sagen die nichts und üben Druck auf die Parteien aus? Es kann doch nicht wahr sein, dass die gesellschaftliche Stimmung innerhalb eines halben Jahres so kippt. Noch vor kurzem wart ihr auf antifaschistischen Demos und jetzt schweigt ihr zum Aufsteigen des Faschismus? Müssen wir uns bei der nächsten Wahl zwischen Parteien entscheiden, von denen uns die eine deportieren und die andere abschieben will? Ich möchte nicht, dass ein Björn Höcke der nächste Bundeskanzler wird!

Zur Person

Burak Yilmaz wurde als Sohn türkisch-kurdischer Eltern 1987 in Duisburg geboren und wuchs im Stadtteil Obermarxloh auf. Sehr viel deutscher als das geht nicht. Er studierte Anglistik und Germanistik und ließ sich zum Theaterpädagogen ausbilden.

Als Betreuer in einem lokalen Jugendzentrum erlebte Yilmaz direkt Antisemitismus und gründete deshalb

2012 das Projekt „Junge Muslime in Auschwitz“, das Fahrten in das ehemalige Vernichtungslager organisiert. Für sein vielfältiges Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus wurde ihm 2022 das Bundesverdienstkreuz verliehen.

2021 veröffentlichte er sein Buch „Ehrensache: Kämpfen gegen Judenhass“. Nach den Massakern der Hamas vom 7. Oktober forderte Yilmaz ein Verbot von anti-israelischen Veranstaltungen und Demonstrationen. Zu der Zeit machte er die Erfahrung, dass sich viele Muslime in Duisburg mit der Hamas solidarisierten, statt die Gewalt zu verdammen. FR Oliver Müller/imago

Begegnet Ihnen auch unter Migrant:innen die Haltung: Wir sind hier und gehören hierher. Aber Geflüchtete können wir nicht brauchen?

Klar, ein Paradebeispiel ist das letzte Fußballspiel der Türkei bei der EM. Vorher gab’s einen Fanmarsch, da wurde auf Türkisch gesungen: „Wir wollen keine Geflüchteten in unserem Land“. Im türkischen Nationalismus spielt der Hass auf Geflüchtete eine zentrale ideologische Rolle, weil man die eigene Gruppe als überlegen betrachtet

Bei der EM konnten wir live erleben, welchen Einfluss die rechtsextremistischen Grauen Wölfe bei türkischstämmigen Männern hierzulande haben. Was für Erfahrungen haben Sie mit der Organisation gemacht?

Meine ersten Erfahrungen mit den Grauen Wölfen stammen bereits aus der Kindheit. Dort, wo ich in Duisburg-Marxloh Ende der 80er-Jahre aufgewachsen bin, waren sie sehr stark. Da wurde Kindern angeboten, an Sommercamps in Deutschland und der Türkei teilzunehmen. Zum Beispiel die Sommerferien in einer türkischen Koranschule zu verbringen oder an Musik- und Grillabenden teilzunehmen. Die Grauen Wölfe machten sehr viele Angebote für Kinder und Jugendliche …

… und die deutsche Seite nicht?

Die Politik hat unseren Stadtteil nach dem Niedergang der Stahlindustrie völlig fallengelassen. Als Kind konnte ich problemlos die Sommerferien in der Türkei verbringen, aber um im Süden von Duisburg zum Klettergarten zu gehen, fehlte uns das Geld. Denn das kostete 40 Mark – während die sechs Wochen Türkei mit den Grauen Wölfen kostenlos waren. So hat die Organisation viele Menschen an sich gebunden. Ich finde derartige Strukturen total absurd: Einen Klettergarten, der zehn Kilometer weit weg ist, konnte ich nicht besuchen, weil zu Hause kein Geld da war. Aber ich konnte umsonst sechs Wochen Sommerferien in der Türkei machen. Bis heute guckt die Politik da nicht hin. Bis heute gibt es eine große Ignoranz, wenn es um die migrantischen Stadtteile im Duisburger Norden geht.

Was bieten die Grauen Wölfe Jungs und Jugendlichen jenseits von Freizeitvergnügen an?

Sie bieten dir Zugehörigkeit, bieten dir an, jemand zu sein – und zwar Türke. Ideologisch wird dir vermittelt, dass die eigene Gruppe unfehlbar ist, dass man wach sein muss, weil es Feinde gibt. Es geht um Überlegenheit und die Macht, dich groß und stark zu fühlen. Teil eines größeren Kollektivs und einer größeren Sache zu sein. Das wirkt bei vielen Kindern und Jugendlichen. Und wenn sie dann noch in einem Stadtteil leben, wo sie das Gefühl haben, an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu sein, trifft diese Ideologie an diesem Ort auf sehr fruchtbaren Boden.

In der Türkei sitzen die Grauen Wölfe mit in der Regierung, in Deutschland werden sie vom Verfassungsschutz beobachtet. Sollte die Organisation verboten werden?

Ganz klar, ja. Die Grauen Wölfe lehnen die Demokratie ab und üben Gewalt gegen kurdische und alevitische Menschen aus, bis hin zu Morden. Ich frage mich, wie solche Strukturen entstehen konnten und wieso sie nicht schon längst verboten sind …

… vielleicht, weil die Politik sie erst ins Land geholt hat? War es nicht der CSU-Politiker Franz Josef Strauß?

Genau. In den 1970er-Jahren haben viele Arbeitsmigranten begonnen, sich linken Gewerkschaften anzuschließen. Es gab berühmte Streiks, wo sie nicht nur für mehr Lohn gekämpft haben, sondern auch für bessere Wohnungen und für das Ende von Diskriminierung. Das war Strauß ein Dorn im Auge. Er hat Kontakt zum Chefideologen der Grauen Wölfe aufgenommen und ihn nach Deutschland eingeladen. Dann hat der deutsche Staat den Aufbau der ersten Büros der Grauen Wölfe unterstützt, um die Arbeiterschaft zu spalten.

Waren Sie mal in einer Koranschule in der Türkei?

Ich war in unterschiedlichen, aber im Stadtteil und nicht in der Türkei. Das war lustig, wir haben als Jungs ziemlich viel Mist gebaut und den Imam oft parodiert. Aber auch viel gelernt. Über Religion, Kultur oder Benimmregeln. Wie esse ich am Tisch, wie begegne ich älteren Menschen, welche Gepflogenheiten gibt es, wenn man Verwandte besucht?

Heute arbeiten Sie selbst mit muslimischen Jugendlichen. Wo setzen Sie mit Ihrer Bildungsarbeit an?

Mir ist es wichtig, mit den Jugendlichen über ihre Erfahrungen in Deutschland zu sprechen. Vor allem über ihre Familienbiografien, die kaum irgendwo auftauchen – weder in Schulbüchern noch in Museen. Sie sollen merken, dass Geschichte in der eigenen Familie stattfindet. Mir ist Wertschätzung am Wichtigsten. Wenn sie aber Ideologien in sich tragen, die islamistisch oder antisemitisch sind, muss Bildungsarbeit intervenieren und sie auch konfrontieren. Das darf nicht verharmlost werden.

Was ist stattdessen Ihre Botschaft?

Ich will den Leuten zeigen: Ihr tragt auch Verantwortung. Der Kampf gegen Rassismus beginnt im eigenen Kopf. Wir sind handlungsfähig und können etwas verändern. In der türkischen Community wird viel über den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft gesprochen. Doch wenn es dann um den Rassismus in der eigenen Community oder der eigenen Geschichte geht, dann wird das Thema tabuisiert. Das nehme ich nicht hin.

Was für eine Migrations- und Integrationspolitik brauchen wir, damit diejenigen, die auf Hass und Spaltung setzen, keine Chancen haben?

Es gilt eine ganz einfache Regel: Die Sicherheit und Existenz von Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung ist nicht verhandelbar – Punkt! Rechtsextreme müssen Angst vor unserer Gesellschaft haben und nicht umgekehrt. Ich erwarte von der deutschen Politik, dass sie Rechtsextremismus bekämpft, anstatt selbst immer mehr zum Teil des Problems zu werden. Ich möchte diese apokalyptische Stimmung nicht mitmachen. Ich möchte Visionen für diese Gesellschaft. Diese Gesellschaft hat viel mehr Potenzial. Ich sehe das jede Woche, wenn ich mindestens zwei deutsche Städte besuche. Wir brauchen Mut, Hoffnung und positive Geschichten.

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