EU-MIGRATIONSPOLITIK: DIE DEUTSCHEN – EIN RäTSEL

Wie Europa auf die deutschen Grenzkontrollen blickt – und warum die Bundesregierung wohl bald einige moralische Positionen räumen muss.

Die Deutschen – ein Rätsel

Die Bundesregierung hat sich mit ihrer Wende in der Migrationspolitik ganz neue Freunde in Europa gemacht. Der Rechtspopulist Geert Wilders, der die niederländische Regierung steuert, zeigte sich begeistert von der deutschen Ankündigung umfassender Grenzkontrollen. Und der ungarische Regierungschef Viktor Orbán twitterte: „Scholz, willkommen im Klub!“

Natürlich handelt es sich um falsche Freunde. Die Regierung Orbán muss einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zufolge eine Millionenstrafe zahlen, weil sie es Migranten de facto unmöglich macht, einen Asylantrag zu stellen. Die niederländische Regierung hat angekündigt, aus dem europäischen Asylsystem auszusteigen und gar keine Migranten mehr ins Land zu lassen. Das möchte die deutsche Politik offensichtlich nicht. Aber was genau sie will, darüber herrscht Unklarheit in Brüssel.

In Brüssel erwartet man Kontrollen bis zur Bundestagswahl

Am 17. und 18. Oktober treffen sich die 27 Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Die Migrationspolitik dürfte bei dem Gipfel eines der wichtigsten Themen sein, und Olaf Scholz wird sich erklären können. Die deutsche Regierung galt bislang als Bremser bei allen Versuchen, die Asylregeln zu verschärfen. Mit ihren Bemühungen, mehr Humanität walten zu lassen, stand sie allein. Die Frage ist, ob sie sich jetzt zu den Hardlinern gesellt.

Erst im April hat die EU ihren „Migrationspakt“ verabschiedet. Er sieht vor, Asylbewerber mit geringen Aussichten auf Erfolg in Lagern an den Außengrenzen der EU einzusperren und von dort schnell abzuschieben. Damit soll auch das Dublin-System gestärkt werden, also das Prinzip, dass für Asylverfahren die Länder verantwortlich sind, in denen die Bewerber europäischen Boden betreten. Die „Sekundärmigration“ quer durch Europa zu stoppen, ist wesentliches Ziel des Paktes. Nur so lasse sich der grenzkontrollfreie Schengen-Raum retten, hatte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser trotz humanitärer Bedenken ihre Zustimmung begründet. Umso überraschender ist es, dass Ministerin Faeser umfassende Grenzkontrollen verhängt hat, ohne die Wirkung des Migrationspaktes abzuwarten.

Grenzkontrollen sind zumindest im Westen Europas wieder üblich, obwohl sie laut dem Schengener Grenzkodex „eine Ausnahme darstellen“ und nur „vorübergehend“ sein sollen. Mehr als 400 Einträge umfasst die entsprechende Liste der EU-Kommission, bei der die Kontrollen angemeldet werden müssen. Dass allerdings nun Deutschland als größtes Land Europas, im Herzen des Kontinents gelegen, alle seine Grenzen kontrolliert, hat eine neue Qualität. Erst einmal sind die Kontrollen für sechs Monate angemeldet. Aber in Brüssel rechnen alle damit, dass mindestens ein Jahr lang kontrolliert wird, bis zur Bundestagswahl 2025. Im Extremfall können die Kontrollen drei Jahre dauern.

Deutschland torpediere das Schengen-Abkommen, kritisiert der griechische Premier

Die EU-Kommission hat noch nie Einspruch gegen nationale Grenzkontrollen angemeldet. Auch zu den aktuellen deutschen Plänen äußert sie sich sehr zurückhaltend. Dabei dürfte es auch bleiben, solange die Kontrollen nicht zu Staus führen, die den Grenzverkehr massiv beeinträchtigen. Die Frage wird allerdings sein, was aus den Kontrollen folgt.

Will Deutschland an seinen Grenzen nicht nur Menschen ohne Visum zurückweisen, sondern auch Asylbewerber, für deren Verfahren nachweislich andere Länder zuständig sind? Die österreichische Regierung hat schon angekündigt, sie werde da keinesfalls mitspielen. Sie beharrt auf den Dublin-Regeln, die in jedem Fall zuvor ein „Konsultationsverfahren“ mit dem betreffenden Staat vorsehen. Andere Länder sehen das genauso.

Will Deutschland gar alle Asylbewerber ohne Absprache mit den Nachbarn zurückweisen, wie es der Berliner Opposition offenbar vorschwebt? Es ist schwer vorstellbar, wie das mit europäischem Recht vereinbar sein sollte. Würde die EU-Kommission den Deutschen im Rahmen der geltenden Regeln eine Migrationskrise bescheinigen und ihr Sonderrechte zubilligen, würde sich wohl halb Europa darauf berufen – und das europäische Asylsystem würde zusammenbrechen. Der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis zeigt sich empört darüber, dass Deutschland einseitig das Schengen-Abkommen torpediere und alle Probleme der Migration auf die Staaten an den Außengrenzen abladen wolle.

Letztlich wird die deutsche Regierung die europäischen Partner wohl nur in die Pflicht nehmen können, wenn sie auf EU-Ebene eine politische Verständigung über die ganze Palette der Migrationspolitik erreicht. Das hätte einen hohen Preis für die Ampel. Eine Vielzahl von Staaten strebt weitere Gesetzesverschärfungen an, ferner eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittstaaten bis hin zur kompletten Auslagerung von Asylverfahren. Auch soll es weitere Migrationsabkommen mit schlecht beleumundeten Staaten wie Tunesien oder Ägypten geben, die massive Wirtschafts- und Finanzhilfe dafür erhalten, dass sie Migranten von Europa fernhalten.

Die deutsche Regierung hat sich in Brüssel den Ruf erworben, Maßnahmen zur nachhaltigen Abwehr von irregulärer Migration mit erhobenem moralischem Zeigefinger abzuwehren. Dabei gilt in Brüssel gerade das umstrittene Tunesien-Abkommen als ein Grund dafür, dass die Zahl der in Europa ankommenden Flüchtlinge in diesem Jahr stark gesunken ist, um 37 Prozent weniger als im vergangenen Jahr. Die Lage in der Migrationspolitik hat sich also aus europäischer Perspektive eher entspannt – aber in Berlin hat sich die Wahrnehmung der Lage seit der Terrortat in Solingen radikal geändert.

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