Laut Karl Marx gibt es einen Punkt, an dem Quantität in Qualität umschlägt. Steigt die Menge von etwas, verändert sich irgendwann auch dessen Eigenschaft. Marxistische Geschichtstheorien erwiesen sich in der Vergangenheit zwar als wenig verlässlich. Doch ausgerechnet der superreiche Kleinkanton Zug könnte nun zum Anwendungsfall für die Marxsche Alchemie werden. Eine nie da gewesene Geldschwemme bringt das Zuger Wesen in Gefahr.
461 Millionen Franken betrug der Überschuss im letzten Jahr, und es kommt noch besser. Ab diesem Jahr gilt die OECD-Mindeststeuer. Zug muss den Satz für die kantonalen Firmensteuern von 12 auf 15 Prozent anheben, was die Kassen definitiv zum Überlaufen bringt. Der Kanton muss sich neu erfinden. Tiefere Unternehmenssteuern sind keine Option mehr.
Wie konnte es so weit kommen? Warum kämpft der Voralpenkanton mit einer Geldschwemme, während der Rest der Welt unter klammen Kassen leidet? Eine Erklärung in fünf Punkten.
Im Steuerwettbewerb war Zug ein Nachzügler. Erst nach Glarus und Schaffhausen führten die Innerschweizer 1922 das Steuerprivileg für Domizil- und Holdinggesellschaften ein. Anfangs mit bescheidenem Erfolg, neue Firmen kamen keine, dafür drohten die lokalen Industriebarone mit der Umwandlung ihrer Unternehmen in Holdings, wenn ihre Steuern nicht auch gesenkt würden. Die Zuger Regierung musste die nächste Reform aufgleisen, wollte sie mit den anderen Kantonen Schritt halten. Das geschah nicht ohne internen Widerstand, wie der Historiker Michael von Orsouw in seinem Buch «Das vermeintliche Paradies» schreibt. Die neuen Firmen würden dem Kanton «mehr Sorge als Freude bereiten», mahnte der katholisch-konservative Regierungsrat und spätere Bundesrat Philipp Etter. Doch das Fundament des Wirtschaftsmodells Zug war gelegt.
Dass Zug die anderen Kantone überflügelte, verdankt es einer Fügung des Schicksals: der Scharnierfunktion zwischen Zürich und der Innerschweiz. Die Anbindung an die Gotthardachse und die Flughäfen Zürich und Genf sowie die Nähe zum Finanzplatz Zürich machten Zug einzigartig. Im Nachkriegsboom kam dies voll zum Tragen, die Holdinggesellschaften liessen sich im Land der blühenden Kirschbäume nieder und versteuerten ihre weltweiten Gewinne zu Discounttarifen. Vor allem amerikanische Unternehmen zogen ins Zugerland. 1956 schlug mit Philipp Brothers der erste Rohwarenhändler seine Zelte in Zug auf.
Schon bald machen sich Klagen über Dichtestress breit. «Schweizer Steueroase überlaufen», titelte die «New York Times» am 13. September 1963. Nach der Invasion von mindestens 300 ausländischen Firmen sei der Sättigungspunkt erreicht. Die Zuger Behörden gingen rigoros gegen weitere Ansiedlungen von Firmen vor, behauptete das Blatt. Davon konnte allerdings keine Rede sein. Die Zuger Behörden feilten vielmehr bereits an der nächsten Reform. Viele Zuzüger waren keine reinen Holdinggesellschaften, sondern hatten eine eigene Geschäftstätigkeit vor Ort. Zug weitete die Steuerprivilegien deshalb auf sogenannte gemischte Gesellschaften aus, die «eigentliche Zuger Spezialität», wie der Historiker Jo Lang sagt. Sie schuf die Voraussetzung, dass Zug zum europäischen Hotspot für Rohstoffhändler wurde.
Doch warum zogen die amerikanischen Trader den Zugersee einer mondänen Steueroase wie Monaco vor? Hier kommt der dritte Zuger Trumpf ins Spiel: die Schweizer Neutralität. «Der sogenannte Osthandel, der Handel mit der Sowjetunion, war von zentraler Bedeutung für Rohstoffhandelsfirmen», sagt Lang. «In einem Nato-Land wäre das nie möglich gewesen.»
1974 verliess der damals 40-jährige Trader Marc Rich die Philipp Brothers und gründete seine eigene Firma. Die Marc Rich + Co AG machte den systematischen Verstoss gegen Handelssanktionen während des Kalten Krieges zu ihrem Geschäftsmodell. Rich verkaufte iranisches Öl nach Südafrika und versorgte die Sowjetunion mit Uran aus Südafrika.
In den USA drohte Rich deshalb eine Haftstrafe von 325 Jahren. Die Zuger Politik blieb ungerührt. Regierungsräte und ein Staatsanwalt sassen gleichzeitig in den Verwaltungsräten der Rohstofffirmen, eine ganze Armada aus Anwälten und Treuhändern stand in ihrem Sold. Linke Initiativen gegen die Verfilzung kamen nicht über Achtungserfolge hinaus. Zug wurde zum Synonym für Skandale. Das setzt sich fort bis zum Ukraine-Krieg. Der russische Staatskonzern Gazprom führte sein internationales Geschäft von Zug aus, der Pipeline-Betreiber Nord Stream 2 hatte in Zug seinen Hauptsitz. «Putins Kriegskasse wurde auch von Zug aus gefüllt», sagt Jo Lang.
Zug wollte nie etwas anderes sein, als es war. Die Kirschtorte muss reichen als Beitrag zum kulturellen Welterbe. Zug lebt von der putzigen Altstadt und der idyllischen Voralpenszenerie, der Rest sind gesichtslose Büro- und Wohnkomplexe, die sich bis zum Autobahnanschluss ausbreiten. Kreative Energie fliesst höchstens in die Optimierung der baulichen Ausnützungsziffer.
«Zug ist auf Business ausgerichtet. Wir pflegen unsere Stärken», sagt der Finanzdirektor Heinz Tännler. Als die Abschlüsse vor rund zehn Jahren plötzlich rot waren, verabschiedete Zug vier Sparpakete. «Ich weiss nicht, ob die anderen Kantone mit Defiziten auch so entschieden handeln», sagt Tännler, der auch seine Behörde schlank führt – anders als die meisten anderen Ämter beschäftigt er keine Kommunikationsabteilung. Medienanfragen beantwortet der Chef selber. Die straffe Finanzpolitik hat jedoch soziale Nebenwirkungen. Mit jeder Steuersenkung steigen die Mieten und die Immobilienpreise. Normalverdiener sind die Verlierer. «Für den Schweizer Durchschnittshaushalt kann selbst der steuerlich attraktivste Kanton Zug die Nachteile hoher Wohnkosten nicht wettmachen», schrieb die Credit Suisse 2021 in einer Studie.
Die OECD-Mindeststeuer stellt das Modell Zug fundamental infrage. Der Kanton steht vor der 400-Millionen-Franken-Frage. So hoch dürfte der strukturelle Überschuss pro Jahr etwa sein. Wie lässt er sich abtragen, ohne den Neid der anderen Kantone zu wecken? Die Regierung wollte das Geld zuerst vergraben. Doch das Volk lehnte im März den Bau von zwei 1,1 Milliarden Franken teuren Strassentunneln ab. Nun muss Zug das Unmögliche schaffen: die Bevölkerung am Manna beteiligen, ohne das Kapital zu vergraulen.
Der Vorschlag der Regierung: Das Volk erhält rund 150 Millionen in Form von tieferen Krankenkassenprämien und Subventionen für Kita und Privatschulen. 150 Millionen Franken fliessen als Förderbeiträge für Nachhaltigkeit und Innovation zu den Unternehmen, 40 Millionen in die Blockchain-Forschung. Der Rest sind Steuererleichterungen für Private und Rentner. Zug bleibt auch beim Geldausgeben sich selber treu: Für Wohnbauförderung sind gerade einmal 4 Millionen vorgesehen.
Tännler glaubt, eine salomonische Lösung gefunden zu haben: «Wir geben das Geld der Bevölkerung zurück und investieren es in Nachhaltigkeit und Innovation. Würden wir nur die Steuern senken, hätten wir wieder eine Diskussion, Zug werde zum Monaco der Schweiz.» Genau das ist aber bereits passiert. Die Zuger Alternativen und Grünen fordern einen Baufonds für günstige Wohnungen, nationale SP-Politiker wollen die Zuger Überschüsse nach Bern umlenken.
Doch die wahre Gefahr für Zug liegt weder im Kantons- noch im Bundesparlament. Tännler hat dies erkannt: «Die Frage ist, wann der nächste Schritt auf internationaler Ebene kommt. Wenn der OECD-Mindeststeuersatz weiter angehoben und der Steuerwettbewerb ganz eingedämmt wird, wird Standortförderung nicht mehr genügen.»
In Zug macht man sich keine Illusionen. Sind die Steuern überall gleich, verblassen die eigenen Reize. Die Rohstoffhändler könnten zum Schluss kommen, dass der Genfersee und der Mont Blanc doch reizvoller sind als der Zugersee und die Rigi.
2024-07-20T20:13:37Z